Zehn Jahre nach 9/11: Wie New York das Terrortrauma überwindet (2024)

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Der Geist von 9/11 ist nur noch schwer aufzuspüren. Der Weg geht zunächst durch ein Tor im Hochsicherheitszaun, dann vorbei an einem massiven Rohbau, dessen Beton- und Stahlpfeiler den Sommerhimmel verdunkeln. Ein Banner mahnt: "Never forget." Weiter über Bretter und Stege, an Gruben entlang, in denen Öl schimmert. Schließlich durch einen Hain aus Hunderten Bäumchen. Der Himmel bricht durch.

Es ist ein lärmendes Labyrinth, das zum Ort der Stille führt. Mitten im Baustellenkrach von Ground Zero findet sich das 9/11-Memorial, die neue Gedenkstätte der Stadt und der Nation: Zwei riesige Löcher, die Fußstapfen der Twin Towers, in die jetzt die größten künstlichen Wasserfälle Nordamerikas stürzen. Deren stetes, stilles Rauschen blendet den Rest der Welt aus, wie eine Flut aus tausend Tränen.

Erst in dem Moment kehren sie plötzlich zurück, die Wahrnehmungen jenes Tages. Der süßlich-beißende Geruch. Das Kratzen in Augen und Hals. Der graue Staub auf den Blumenkästen. Die Alpträume, wochenlang. Und der stechende Schmerz beim Anblick der Suchposter mit den Fotos der Vermissten und ihren letzten Koordinaten: 99. Stock, 105. Stock, "Windows on the World".

Vor allem aber dieses Loch im Magen: Die klamme Ahnung, dass fortan nichts mehr so sein würde wie früher. Der Geist von 9/11.

Zehn Jahre später ist inNew York in der Tat nichts mehr wie früher - und doch alles wieder beim Alten. Die New Yorker sind in ihren Trott zurückverfallen, haben sich die neue Welt mit typischer Kaltschnäuzigkeit gefügig gemacht und ihr 9/11-Trauma zu Ritualen eingedampft.

Der plumpe Cowboy und der kalte Pragmatiker

Am Sonntag werden sie an den Wasserfällen der Opfer gedenken, deren Namen in den Brüstungen des Memorials verewigt sind. Die Präsidenten von einst und jetzt,George W. Bush undBarack Obama, werden die Delegationen anführen - fleischgewordene Klammern um eine Ära, vorher und nachher: Der plumpe Cowboy und der kühle Pragmatiker.

Die inszenierten Gefühlsaufwallungen zum Jahrestag, in Politik, Kultur wie Medien, täuschen darüber hinweg, dass New York den9/11-Terror weitgehend hinter sich gelassen hat. "Es fühlt sich an", schreibt Richard Stengel, der Chefredakteur des in Manhattan verlegten US-Wochenmagazins "Time", "als hätten wir uns in eine Art Ausgeglichenheit eingefunden."

Never forget? Abseits des Memorials ist der Geist von 9/11 hier nirgends mehr zu finden.

Der Rest von Ground Zero ist eine Großbaustelle, in der elf Milliarden Dollar versenkt werden, damit die Terroristen nicht gesiegt haben. Der Freedom Tower, einst das Symbol der Neugeburt, heißt längst nicht mehr so, weil das heute zu viel der Erinnerung wäre. Hauptmieter wird Condé Nast sein, das Haus der Glamourblätter "Vogue" und "Vanity Fair".

Jenseits des Bauzauns herrscht der alte Takt aus Chaos und Charme: New York brüllt, keift, zockt, flirtet, liebt und hasst wie ehedem.

Zugegeben, einiges hat sich verändert, gerade hier, seit 9/11 tags darauf in der "New York Times" erstmals ein eigenes Wort wurde. Viele New Yorker haben Überlebenskits im Schrank (Dosenkost, Batterien, Taschenlampe), die auch bei Erdbeben und Hurrikanen zupass kommen. Das Katastrophenamt OEM bekam eine neue Hightech-Zentrale, abseits der Wolkenkratzer in einem Brooklyner Bunker. Das New York Police Department wurde zu einer heimlichen Anti-Terror-Spezialarmee.

Vom Ghetto des Grauens zum neuen In-Viertel

Anderes aber war so kurzlebig wie die Warn-Ampel des Heimatschutzministeriums. Die Rufe nach besseren Kommunikationssystemen für die Feuerwehr verhallten, das Anthrax-Fieber verklang, die Angst versandete und mit ihr die Dringlichkeit. Die Frage nach dem wirklichen Warum wurde erstickt - inWashington von der Politik, in New York vom Weiter-so-Gehabe.

Dafür ist der Humor zurück. Die im Rockefeller Center produzierte Comedy-Show "Saturday Night Live" ging nach der Pietätspause schon am 29. September 2001 wieder auf Sendung. Heute darf man 9/11-Witze reißen. "Das unbeliebteste Lied bei der Feuerwehr?", fragt das "New York Magazine": "It's Raining Men."

New Yorker sind unsentimental. Lower Manhattan, vormals das Ghetto des Grauens, ist das neue In-Viertel, auch dankRobert De Niro, der 2002 das Tribeca Film Festival erfand, um die Massen nach Downtown zu locken. In den aufgegebenen Banktürmen der Wall Street nisten jetzt die Finanzkrisengewinnler, in den Gassen rings um Ground Zero brummen Drei-Sterne-Restaurants. 60.000 Leute leben hier heute - doppelt so viele wie vor zehn Jahren.

"Die Wiedergeburt von Lower Manhattan wird als eine der größten Comeback-Storys in die Geschichte Amerikas eingehen", posaunt BürgermeisterMichael Bloomberg. Der Nachfolger des 9/11-"Helden"Rudolph Giuliani trat sein Amt am Neujahrstag 2002 an, als Ground Zero noch kokelte, und eröffnete die Gedenkwoche am Dienstag in der Nobelschenke Cipriani's.

Die Post-9/11-Generation

Sicher, viele kehrten der Stadt den Rücken, als könnten sie so auch ihre lädierte Psyche hinter sich lassen. Andere dagegen blieben jetzt erst recht, und noch viel mehr Menschen kamen neu an: Immigranten, Optimisten, die Post-9/11-Generation. Heute ist New York City mit 8,2 Millionen Einwohnern so groß wie nie.

Die, die sich dabei noch direkt an den 11. September erinnern können, scheinen in der Minderheit. Es sind meist jene wenigen, die sich immer noch instinktiv ducken, wenn ein Jet mal wieder tief auf La Guardia zufliegt.

Selbst die Touristen scheuen sich nicht mehr. New Yorks Hotels sind wieder zu 85 Prozent ausgebucht, die Kreuzungen verstopft mit Doppeldeckerbussen, mit denen sie sich an den Nebenkriegschauplätzen von 9/11 vorbeikutschieren lassen. Das St. Vincent's Hospital, wo die Blutspender Schlange standen (heute pleite und geschlossen). Der Union Square, wo ein Kerzenmeer flackerte (frisch renoviert). Der West Side Highway, über den Tausende flohen (mit Park-Promenaden aufgemotzt).

Der 9/11-Horror ist zum Themenpark-Klischee geschrumpft. Überlebende führen die Schaulustigen heute als freiwillige Mitarbeiter einer Gedenkfirma im Karree um Ground Zero herum und erfreuen sie mit Gruselstorys.

Terror ist als Sorge Nummer eins verdrängt

Dass die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin den 9/11-Knochenstaub heute noch nach Opfern durchkämmen, davon sprechen nur wenige. Aus den 21.817 Einzelfragmenten konnten bisher nur 1629 Personen identifiziert werden - knapp 60 Prozent aller Toten.

Der Terror ist im Alltag integriert. Die schwer bewaffneten Subway-Cops, die gelegentlichen Rucksack-Kontrollen, Überwachungskameras: Man hat sich daran gewöhnt. Terror ist als Sorge Nummer eins verdrängt, von der Wirtschaft, den Schulden, dem Leben.

Ungebrochen bleibt die stille Solidarität der Leute hier miteinander, die sich in den Tagen nach 9/11 so dramatisch offenbarte. Verloren im Tagesrummel, bricht sie in Notlagen immer wieder durch, zeigte sich im großen Blackout von 2003 undzuletzt beim Hurrikan "Irene". Millionen leben hier weiter mit- und manchmal auch gegeneinander, trotz unterschiedlicher Sprachen, unterschiedlicher Hautfarben. Sie pflegen einen Way of Life, den al-Qaida auslöschen wollte. Dies ist ein weit besserer Beweis, dass die Terroristen nichts gewonnen haben, als die Bauwut von Lower Manhattan.

Unverändert bleibt auch das Gefühl, auf einem anderen Stern zu leben als andere Amerikaner. Die Stadt wehrt sich bis heute gegen die politische Instrumentalisierung der Anschläge: gegen Folter, Bespitzelungen, Kriege.

Als die 9/11-Nation im Patriotentaumel versank, bäumten sich die New Yorker gegen diesen Zirkus, der seinen Höhepunkt 2004 ausgerechnet hier fand, beim Wahlparteitag derRepublikaner im Madison Square Garden. Hunderttausend protestierten vor der Tür.

Vier Jahre später stimmten 85,7 Prozent der Wähler allein in Manhattan für Barack Obama.

Zehn Jahre nach 9/11: Wie New York das Terrortrauma überwindet (2024)

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Author: Maia Crooks Jr

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